Set-Point-Theorie

Anhänger der „Set-Point“-Theorie (z.B. Cabanac, Keesey, Pudel) gehen davon aus, daß das Körpergewicht von einem „Set-Point“ bestimmt wird.

Die „Set-Point“-Theorie (Cabanac, Duclaux & Spector, 1971; Nisbett, 1972) erklärt die Tatsache, daß Menschen normalerweise ihr Gewicht ohne bewußte Anstrengung langfristig konstant halten. Bei adipösen Menschen ist nach den Verfechtern dieser Theorie der „Set-Point“ zu hoch eingestellt.

Der Begriff „Set-point“ stammt aus der kybernetischen Regulationstheorie und bezeichnet in einem Regelkreis das Referenzsignal (bzw. den Sollwert). Theoretisch sind solche Modellvorstellungen eng mit dem Begriff der Homöostase verknüpft, der von Cannon (1932) eingeführt wurde.

Der „Set-point“ ist ein unabhängiges, regulierbares Signal, welches einen Wert für eine Variable (z.B. Körpergewicht) setzt. Der Wert des „Set-Points“ wird nach dieser Theorie von einer körpereigenen Schaltzentrale, dem Ponderostat, bestimmt. Die entsprechenden somatischen Strukturen des Ponderostats für das Körpergewicht sieht Keesey (1993) in der Region des Hypothalamus.

Die Regulierung der Variablen funktioniert auf folgende Weise: Der gegenwärtige Zustand des Organismus wird mit dem Referenzpunkt („Set-Point“) verglichen. Entsprechende Abweichungen generieren ein Fehlersignal, welches das System aktiviert, diese zu korrigieren.

Bezogen auf das Körpergewicht bedeutet das folgendes: Bei Abweichungen vom natürlichen Gewicht durch eine herabgesetzte oder gesteigerte Nahrungsaufnahme reagiert der Körper mit Anpassung. Wenn beispielsweise durch eine Diät das Gewicht unter den „Set-Point“ absinkt, wächst kompensatorisch der Appetit und der Energieverbrauch nimmt ab. Wird wieder normal gegessen, steigt das Körpergewicht wieder auf das vom „Set-Point“ bestimmte Gewicht an.

Tierversuche (Corbett, Wilterdink & Keesey, 1985) bringen theoriekonforme Ergebnisse und sprechen für die Existenz eines „Set-Points“.

Wenn das Gewicht bei Ratten um 14,9 % durch eine Diät reduziert wird, geht der Ruheumsatz (RMR) um 24,6 % zurück. Dieser Rückgang ist größer, als nach der Formel von Kleiber (1975) für das reduzierte Gewicht zu erwarten wäre. Dieser Anpassungsmechanismus des Ruheumsatzes spricht für eine Regulierung des Körpergewichts und für einen physiologisch präferierten Gewichtslevel oder „Set-Point“.

Kleiber (1975) fand heraus, daß der Ruheumsatz aller Tiere eine Funktion ihres metabolischen Körpergewichts darstellt. Er ermittelte für die Beziehung zwischen Ruheumsatz und Körpergewicht folgenden Zusammenhang:

kcal/Tag = 68,5 + 1,4 Körpergewicht.75

 

Cabanac et al. (1971) untersuchten, ob es Veränderungen bei Geschmacks- und Geruchssensationen gibt, die zu einem „Set-Point“ in Verbindung stehen. Sie stellten die Hypothese auf, daß, wenn Veränderungen des Körpergewichts einen Effekt auf Geschmacks- und Geruchssensationen besitzen, das für die Existenz regulatorischer Prozesse bezüglich des Körpergewichts und die Beteiligung sensorischen Feedbacks im Ernährungsverhalten spricht.

Wie erwartet, zeigten sich bei einem experimentellen Gewichtsverlust der Probanden keine negativen Bewertungen der Zuckerlösungen nach einem Glukosepreload, die vor der Gewichtsabnahme noch als negativ (zu süß) beurteilt wurden.

Daß die Zuckerlösungen zu dem Zeitpunkt, als die Probanden unter ihrem persönlichen Normalgewicht waren, nicht mehr als negativ empfunden wurden, spricht nach Meinung der Autoren für ein kompensatorisches Verhalten von Geschmacks- und Geruchssensationen, die eine Wiedererlangung des Ausgangsgewichts unterstützen sollen und damit für die Existenz eines „Set-Points“.

Die zentrale Annahme bei Adipositas ist, daß hier der „Set-Point“ des Körpergewichts zu hoch eingestellt ist.

Sollte diese These stimmen, müßten Übergewichtige zwei Bedingungen erfüllen. Erstens sollte es bei Gewichtsreduktionsmaßnahmen zu einer kompensatorischen Erniedrigung des Energieverbrauchs kommen, damit das erhöhte Körpergewicht erhalten bleibt, und zweitens sollten sie einen Energieverbrauch zeigen, der zu ihrem erhöhten Körpergewicht paßt.

Nach unveröffentlichten Beobachtungen von Hirvonen und Keesey (1995; in Keesey, 1995) zeigen sich in Tierversuchen die erwarteten Gegenregulationen des Energieverbrauchs:

Wenn eine schwergewichtige Ratte von 425 g durch diätische Maßnahmen ein Körpergewicht von 380 g erreicht, sinkt ihr Ruheumsatz unter den Wert einer Ratte, deren Körpergewicht von 380 g ihrem Normalgewicht entspricht. Der Ruheumsatz der Ratte, die abgenommen hat, fällt substantiell unter den Wert, der durch die Gleichung von Kleiber (1975) vorhergesagt wird. Auch die diätinduzierte Thermogenese reduziert sich auf einen fast nicht mehr meßbaren Wert.

Aus diesen Energieverbrauchsanpassungen kann man folgern, daß die schwergewichtige Ratte ihr „Set-Point“-Gewicht bei 425 g besitzt, welches sie mit Hilfe eines verminderten Energieverbrauchs verteidigt (gemäß erster Bedingung). Gleichzeitig zeigt diese Ratte bei ihrem Ausgangsgewicht (425 g) einen Energieverbrauch, der nach Kleiber (1975) zu diesem Körpergewicht paßt (gemäß zweiter Bedingung). Daraus kann man folgern, daß es für diese Ratte normal ist, übergewichtig zu sein.

Keesey (1993) stellt 2 Tiermodelle des Übergewichts dar. Beim Modell des diätinduzierten Übergewichts wird fettreiche Nahrung als ätiologischer Faktor angesehen. In einer Untersuchung von Corbett et al. (1986) bekamen Ratten über die Dauer von 6 Monaten besonders schmackhafte Nahrung. Diese Ratten wogen schließlich 26% mehr und hatten mehr als das doppelte an Fettgewebe (erhöhte Fettzellengröße und Fettzellenanzahl). Sie zeigten normale Raten des RMR für ihr erhöhtes Körpergewicht und eine kompensatorische Verringerung des Energieverbrauchs bei Gewichtsabnahmen. Bei Nahrungsrestriktion verringerte sich das Fettgewebe vorübergehend, die Adipozytenanzahl blieb jedoch auf ihrem erhöhten Niveau konstant.

Man kann daraus folgern, daß hochfettreiche Nahrung den „Set-Point“ erhöht. Diese Annahme ist konsistent mit der Beobachtung, daß diätinduzierte Fettleibigkeit häufig irreversibel ist.

Bei dem genetischen Tiermodell wird davon ausgegangen, daß neben einer erhöhten Energiezufuhr ein genetisch bedingter verminderter Energieverbrauch für die Entwicklung einer Adipositas verantwortlich ist. Kommt es bei diesen adipösen Ratten auch nur zu einem milden Gewichtsverlust, verringert sich der tägliche Energieverbrauch sehr stark.

Auch bei adipösen Menschen sollten sich bei Gewichtsabnahmen Veränderungen im Ruheumsatz zeigen, wenn diese von einem erhöhten „Set-Point“ reguliert werden und Personen mit Adipositas sollten insgesamt einen Energieverbrauch zeigen, der zu ihrem Körpergewicht paßt.

In einer Untersuchung von Leibel und Hirsch (1984) zeigten sich während einer 7-tägigen Erfassung des Kalorienbedarfs für gewichtsstabile, adipöse Patienten vergleichbare Werte wie für normalgewichtige Kontrollpersonen (1,432 vs. 1,341 kcal/m2/Tag).

Der normale Kalorienbedarf für adipöse Patienten setzt einen normalen Energieverbrauch voraus. Damit ist die zweite Bedingung für die These, daß Adipöse von einem erhöhten „Set-Point“ reguliert werden, erfüllt, da diese für ihr erhöhtes Gewicht einen normalen Energieverbrauch zeigen.

Verloren die adipösen Studienteilnehmer durch eine Diät an Gewicht, sank der Kalorienbedarf für Gewichtskonstanz auf dem niedrigeren Gewichtsnieveau auf 1,021 kcal/m2/Tag. Die Gesamtkalorienzahl betrug nur noch 2171 kcal/Tag, die etwa dem Kalorienbedarf der Kontrollgruppe entsprach (2280 kcal/Tag). Der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen bestand nur darin, daß die Adipösen 60 % mehr wogen und normalerweise, entsprechend ihrem erhöhten Gewicht, einen erhöhten Energiebedarf benötigten.

Dieser verringerter Energiebedarf bei der adipösen Personengruppe kann nur durch einen reduzierten Energieverbrauch erklärt werden, der nach Leibel und Hirsch (1984) das Ziel hat, das Ausgangsgewicht zu verteidigen (erste Bedingung).

In einer Studie von Leibel, Rosenbaum und Hirsch (1995), in der 18 Adipöse und 23 Normalgewichtige über- und unterernährt wurden, zeigte sich, daß sich das Gewicht um 10% nach oben bzw. um 10 bis 20 % nach unten bewegte. Dabei verhielten sich alle Komponenten des Energieverbrauchs (Grundumsatz, Thermogenese, körperliche Aktivität) bei beiden Probandengruppen kompensatorisch.

Bray (1969) stellte einen um 17 % verminderten Ruheumsatz bei adipösen Patienten fest, die ihr Gewicht während einer vierwöchigen Diät lediglich um 3 % verringerten.

Diese Reduzierungen des Energieverbrauchs zeigen deutlich, daß das erhöhte Körpergewicht der Adipösen gegenüber Gewichtsabnahmen verteidigt wird. Die „Set-Point“-Theorie erklärt diese kompensatorischen Veränderungen im Energieverbrauch damit, daß der Organismus versucht, den Referenzwert zu erhalten, der bei Adipösen höher als bei Normalgewichtigen ist.

In der Studie von Leibel und Hirsch (1984) konnte nachgewiesen werden, daß bei Adipösen, die über Jahre erfolgreich ein niedrigeres Gewicht verteidigten, der Energiebedarf vermindert blieb, nämlich 1,031 kcal/m2/Tag. Die Beibehaltung eines niedrigeren Gewichtsniveaus macht offensichtlich ein lebenslanges Diätieren notwendig.

Garner & Wooley (1996) sind der Ansicht, daß Personen, die ihre Gewichtsverluste über Jahre halten, in ihrem Eßverhalten Personen gleichen, die man als magersüchtig einstufen würde.

Die Theorie der Regulierung des Körpergewichts durch einen „Set-Point“ ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Garrow und Stalley (1975) weisen darauf hin, daß nach Beendigung des Überessens die Ausgangswerte des Körpergewichts erst nach einer Periode der Nahrungseinschränkung erreicht werden und nicht einfach nur durch spontanes Essen, wie es die „Set-Point“-Theorie postuliert.

Nach der Überzeugung von Wirtshafter und Davis (1977) müssen beim „Set-Point“-Konzept zu viele Zusätze und Ausnahmen gemacht werden. Folgende Befunde lassen sich ihrer Meinung nach nicht mit der „Set-Point“-Theorie in Einklang bringen: eine erhebliche Steigerung des Körpergewichts bei Nagetieren vor dem Winterschlaf, die Gewichtszunahme bei Weibchen vieler Arten während der Schwangerschaft, die Tatsache, daß Ratten bei schmackhafter Nahrung adipös werden und auch Gewichtsveränderungen beim Menschen. Wirtshafter und Davis (1977) entwickeln ein alternatives Feedback-Modell, daß ohne „Set-Point“ auskommt.

Diedrichsen (1990) kritisiert, daß bisher keine biologischen Größen ausgemacht wurden, die das tatsächliche Vorhandensein der körpereigenen Steuerungsstelle (Ponderostat) beweisen.

Trotz der oben genannten Kritik, der an anderer Stelle widersprochen wird (Keesey, 1995), bietet die „Set-Point“-Theorie einen wichtigen Beitrag zur Ätiologie der Adipositas.

Ein Vorteil dieser Theorie liegt darin, daß sie den niedrigeren Gewichtsverbrauch, der bei einer Gewichtsabnahme einsetzt, plausibel erläutern kann. Insbesondere die geringen Langzeiterfolge der Adipositastherapie lassen sich durch diese Theorie anschaulich erklären.

Der Ansatz der Verhaltenstherapie, der Adipositas mit der Normalisierung des Eßverhaltens zu begegnen, erscheint angesichts des kompensatorischen Energieverbrauchs wenig hilfreich. So ist aus der Sicht der „Set-Point“-Theorie nicht ein adipöses Eßverhalten für die Aufrechterhaltung des hohen Gewichts verantwortlich, sondern der erhöhte „Set-Point“ des Körpergewichts ist die Ursache für die Entstehung und Stabilisierung des Übergewichts.