Verhaltenstherapeutische Adipositasprogramme

1. Annahmen der verhaltenstherapeutischen Adipositasbehandlung

Die Basisannahme der verhaltenstherapeutischen Programme besteht darin, daß Adipositas durch eine übermäßige Nahrungszufuhr zustande kommt, und daß sie das Ergebnis eines falschen Eßverhaltens ist. Später kam dann noch die Annahme einer zu geringen körperlichen Aktivität hinzu. Das behaviorale Defizit soll durch die Aneignung von Selbstkontrollfertigkeiten korrigiert werden (Brownell & Jeffery, 1987).

Mit Ausnahme der Ergebnisse, die auf eine verminderte körperliche Aktivität bei adipösen Menschen hinweisen, haben sich die Annahmen des behavioralen Modells, nämlich des inadäquaten Eßverhaltens, nicht bestätigt (Wadden & Bell, 1990). Wadden und Bell (1990) weisen auf Basis ihrer langjährigen klinischen Erfahrung darauf hin, daß ein Teil der Adipösen von Überessen berichtet. Aus diesem Grund warnen sie davor, die Annahmen aufzugeben. Der Psychologe in der klinischen Praxis muß ihrer Meinung nach aber akzeptieren, daß nicht alle Adipösen sich zu wenig bewegen und zu viel Essen.

Brownell und Jeffery weisen schon 1987 darauf hin, daß die Vermittlung eines adäquaten Eß- und Bewegungsverhalten nicht ausreicht, und sie plädieren dafür, Adipositas als chronische Krankheit zu verstehen, in derselben Weise wie dies für Hypertonie oder Diabetes gilt. Diese Sichtweise enthält Implikationen für die therapeutische Behandlung in dem Sinne, daß nach der Beendigung des Adipositasprogramms eine Nachbehandlung wie auch eine Begleitung eventuell lebenslang indiziert wäre.

 

 2. Ziel der verhaltenstherapeutischen Adipositasbehandlung

Die verhaltenstherapeutische Behandlung der Adipositas besitzt ihr primäres Ziel in der Modifikation des Eßverhaltens und dem Grad der physikalischen Aktivität (Wadden & Foster, 1992; Wilson, 1995). Dies geschieht in erster Linie dadurch, daß der Patient sich Selbstkontrollfertigkeiten aneignet. Dabei sollen während der therapeutischen Behandlung die unangepaßten Bewegungs- und Eßverhaltensweisen durch den Patienten identifiziert werden, die mit seinem Gewichtsproblem in Verbindung stehen. Die Betonung während der Behandlung liegt auf der Veränderung des Verhaltens mit dem Ziel, die Kalorienaufnahme zu beschränken und den Energieverbrauch durch körperliche Aktivität zu erhöhen. Dadurch wird eine negative Energiebilanz erreicht, die zu einer Gewichtsabnahme führen soll.

Wadden und Foster (1992) weisen darauf hin, daß Themen wie niedrige Selbstachtung oder intime problematische Beziehungen nicht Gegenstand eines verhaltenstherapeutischen Programms sind. Genausowenig will die Verhaltenstherapie vergangene Probleme der oralen Phase thematisieren, sondern sie konzentriert sich auf die Verhaltensweisen, die in enger Verbindung zur Gewichtskontrolle stehen. Falls diese Themen einer erfolgreichen Gewichtskontrolle entgegenstehen, müssen zusätzliche Schritte außerhalb des verhaltenstherapeutischen Programms initiiert werden (Wadden & Foster, 1992).

Für wen ist die Verhaltenstherapie indiziert?

Die verhaltenstherapeutische Behandlung der Adipositas ist nach Wadden und Foster (1992) in erster Linie für Patienten indiziert, die ein unpassendes Bewegungs- und Eßverhalten aufweisen und bei denen kognitive und emotionale Faktoren die Anwendung von Gewichtskontrollstrategien erschweren. Allgemein gilt aber, daß alle Patienten Strategien erlernen müssen um ihre Nahrungszufuhr zu kontrollieren und ihren Energieverbrauch zu erhöhen. Das gilt auch für Personen, die im Vergleich zu Normalgewichtigen kein unpassendes Bewegungs- und Eßverhalten zeigen und bei denen die Ursache der Adipositas beispielsweise in einem genetisch determinierten erniedrigten Grundumsatz liegt. Wollen diese Personen abnehmen beziehungsweise nicht weiter zunehmen, muß auch bei ihnen die Energiezufuhr gesenkt bzw. die körperliche Bewegung erhöht werden. So profitieren also auch diese Personen durch das Erlernen von den Gewichtskontrollstrategien, denn sie erleichtern Veränderungen in der Energiebilanz.

 

3. Kennzeichen der verhaltenstherapeutischen Adipositasbehandlung

Nach Brownell und Wadden (1986) macht die verhaltenstherapeutische Behandlung intensiv Gebrauch von der funktionalen Analyse. Dabei wird das Eß- und Bewegungsverhalten auf ihre Kovariation mit den verschiedensten Stimuli untersucht (z.B. Zeit, Ort, Aktivitäten, Gedanken, Emotionen und anderen Personen).

Wadden und Foster (1992) weisen auf zwei Kennzeichen der verhaltenstherapeutischen Adipositasbehandlung hin, nämlich daß sie zielgerichtet und prozeßorientiert ist. Es werden klare Ziele formuliert, die eine Veränderung unterstützen und die auch leicht gemessen werden können (Dauer der Mahlzeit schrittweise um 5 Minuten verlängern). Die Prozeßorientierung zeigt sich darin, daß, wenn die direkten Methoden nicht die gewünschten Effekte zeigen, auch Themen behandelt werden können, die mehr dynamisch orientierte Inhalte besitzen. Die Autoren sehen weiterhin als charakteristisch für die verhaltenstherapeutische Behandlung an, daß die Patienten Studenten ihres eigenen Verhaltens sind, indem sie Probleme identifizieren und Strategien zu deren Veränderung implementieren. Schließlich werden sie zu Experten ihres eigenen Essens, Bewegungsverhaltens und Denkens, worin nach Meinung von Wadden und Foster (1992) die Effektivität der verhaltenstherapeutischen Behandlung liegt.

 

4.4     Kennzeichen verhaltenstherapeutischer Adipositasprogramme

Seit der Einführung verhaltenstherapeutischer Adipositasprogramme in den späten Sechzigern entwickelten sich die Programme zu immer intensiveren, facettenreicheren und umfassenderen Behandlungsangeboten für den hilfesuchenden Patienten. Die ersten Programme des behavioralen Ansatzes der Adipositasbehandlung beinhalteten in erster Linie Techniken der Stimuluskontrolle und der Selbstbeobachtung (Brownell & Wadden, 1986). In den folgenden Jahren zeigte sich, daß diese Vorgehensweise einige wichtige Punkte der Gewichtskontrolle vernachlässigte, und so erweiterte sich der Blickwinkel auf die Ernährung und Bewegung, und es kam zur Integrierung entsprechender Strategien. Schließlich erkannte man auch den Wert der Verbesserung interpersonaler Strategien und die Entwicklung weniger dysfunktionaler Einstellungen über Essen und Gewichtskontrolle für die Erzielung besserer Ergebnisse (Wilson, 1995). Mit dem Vorhaben einer Steigerung der Gewichtsabnahme wurden Anfang der achtziger Jahre aggressivere Strategien mit den verhaltenstherapeutischen Programmen kombiniert, nämlich Niedrigdiäten mit 400 – 600 kcal/Tag (Very Low Calorie Diets, VLCD) und Pharmaka. Ab Mitte der achtziger Jahre versuchte man durch spezifische Programme, die nach der Beendigung der eigentlichen Adipositastherapie durchgeführt wurden, bessere Gewichtserhaltungen zu erreichen.

Die verhaltenstherapeutischen Programme sind generell stark strukturiert, problemfokussiert und zeitbegrenzt. Es existieren Manuale, die Anleitungen für jede Sitzung zur Verfügung stellen, in denen die Fähigkeiten zur Gewichtskontrolle exakt und in Reihenfolge beschrieben werden. Während der Sitzungen wird die meiste Zeit für die Besprechung der Hausaufgaben verwendet. Schließlich unterstützen die Manuale ein Lernen außerhalb der Behandlungssitzungen (Wadden & Bell, 1990). Zu nennen ist hier, daß Manual von Brownell mit dem Titel „The LEARN program for weight control“, welches 1997 in siebter Auflage erschienen ist und von vielen Klinikern verwendet wird.

 

Beispiele verhaltenstherapeutischer Adipositasprogramme

Als Beispiel für ein verhaltenstherapeutisches Adipositasprogramm wird kurz der Inhalt eines Programms genannt, wie es Jeffery, Wing Thorson & Burton (1998) durchführen. Während der ersten 6 Monate finden 24 wöchentliche Treffen statt. Danach finden monatliche Treffen bis zum 18. Monat statt. Die Teilnehmer erhalten eine balancierte Reduktionsdiät zwischen 1000 und 1500 kcal. Dabei wird die Fettzufuhr auf weniger als 20% reduziert. Um die körperliche Aktivität zu erhöhen, sollen die Teilnehmer ihren wöchentlichen Energieverbrauch durch Laufen oder Fahrradfahren von anfänglich 250 kcal auf 1000 kcal steigern. Themen in den Gruppentreffen sind Stimuluskontrolltechniken, Problemlösestrategien, Zielsetzung, kognitives Restrukturieren, soziale Unterstützung und Rückfallverhütung.

Ein Programm zur Behandlung der moderaten Adipositas, bei dem eine VLCD durchgeführt wird, beschreibt in seinen Grundzügen Wadden (1993), der sie in 4 Phasen unterteilt. In der vierwöchigen Einführungsphase, wird eine Diät zwischen 1000 – 1500 kcal durchgeführt, die aus konventionellen Lebensmitteln besteht. In dieser Zeit bereiten sich die Teilnehmer und die Familienmitglieder auf die VLCD vor, welche die zweite Phase der Behandlung darstellt und zwischen 8 und 16 Wochen dauert. In dieser Zeit werden Techniken der Selbstbeobachtung angewandt, um die Einhaltung der Diät zu erleichtern. Daran schließt sich die Wiedereinführung konventioneller Lebensmittel über einen Zeitraum von 4 bis 8 Wochen an. Es wird Wert auf eine fettarme Diät gelegt und Stimuluskontrolltechniken werden den Klienten vermittelt. In der letzten Phase der Therapie werden dann intensiv verhaltens-therapeutische Methoden der Gewichtskontrolle vermittelt, wobei Wadden (1993) insbesonde-re die Rückfallverhütung betont.